U. Boschung: Von der Geselligkeit zur Standespolitik

Titel
Von der Geselligkeit zur Standespolitik. 200 Jahre Ärztegesellschaft des Kantons Bern. Im Auftrag der Ärztegesellschaft des Kantons Bern herausgegeben von einer Arbeitsgruppe


Herausgeber
Boschung, Urs; Herren, Madeleine; Schlup, Jürg; Ringli, Werner; Steiner, Reto; Brechbühler, Roland; Lüthi, Daniel; Wolf, Piroschka
Erschienen
Bern 2008: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerrendina Gerber-Visser, Hist. Institut, Abt. Schweizergeschichte, Universität Bern

Das 200-Jahre-Jubiläum der Ärztegesellschaft des Kantons Bern wurde dieses Jahr mit verschiedenen Aktivitäten gefeiert, unter anderem mit der Publikation einer Festschrift. Die mit der Publikation beauftragte Arbeitsgruppe legt mit diesem Sammelband ein informatives und ansprechend gestaltetes Buch vor, das sich an die heutigen Mitglieder der Ärztegesellschaft, ein Fachpublikum und eine weitere interessierte Öffentlichkeit richtet. Es war zudem ein Anliegen der Herausgeber, sowohl auf die unterschiedlichen Ausprägungen des ärztlichen Berufs in der heutigen Zeit hinzuweisen als auch die Bedeutung der Standesorganisation als gemeinsame Plattform aller in sehr unterschiedlichen Bereichen tätigen Ärztinnen und Ärzte hervorzuheben (S. 21).

Die «Medicinisch-chirurgische Gesellschaft des Cantons Bern» wurde 1809 in
Burgdorf gegründet. Die Geschichte dieser beruflichen Vereinigung widerspiegelt exemplarisch eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung: Gegründet im Jahrhundert der Vereinsbildungen, mit dem Zweck, die Geselligkeit und die fachliche Fortbildung zu pflegen, versteht sie sich heute als berufliche Gruppierung mit Hauptaktivität auf dem Gebiet der Standespolitik und gesundheitspolitischer Fragen. Die bernische Gesellschaft strebte seit den 1860er-Jahren eine gesamtschweizerische Zusammenarbeit der Ärzteschaft an und übernahm die Initiative, indem sie 1870 zu einem ersten Treffen nach Olten einlud, wo die deutschschweizerischen Ärztegesellschaften den «Ärztlichen Centralverein» gründeten. Die «Verbindung der schweizerischen Aerzte FMH» ihrerseits wurde 1902 unter Einbezug der anderen Sprachregionen gegründet. 1911 änderte die bernische Gesellschaft ihren Namen, gab sich neue Statuten und verpflichtete die niedergelassenen Ärzte zum Beitritt zur Gesellschaft bzw. zu den entsprechenden Bezirksvereinen. Der Schritt zur verbindlichen Berufsorganisation mit dem Ziel der Vertretung der ärztlichen Interessen war damit
vollzogen.

Die Festschrift geht auf die Geschichte verschiedener aktueller Fragen ein und verfolgt sie bis in die Gegenwart, so etwa auf das Verhältnis zu den Krankenkassen und der Haltung der bernischen Ärztegesellschaft zur Einführung des Krankenkassenobligatoriums, die Entwicklung des ärztlichen Einkommens sowie den Einzug der Frauen in den ärztlichen Beruf und in die Ärztegesellschaft. Zudem findet sich im ersten Teil des Buches ein Beitrag zu der sich wandelnden Wahrnehmung der Berner und Schweizer Ärzte im Ausland, die auch – aber nicht nur – von einzelnen Persönlichkeiten, wie beispielsweise Theodor Kocher, geprägt war. So gehörten die medizinischen Fakultäten in der Schweiz zu Beginn des Jahrhunderts in den Augen des Auslandes auch deshalb zu den fortschrittlichsten, weil sie einen prozentual hohen Anteil an weiblichen Studierenden verzeichneten. Ein weiteres historisches Kapitel ist der kriegsmedizinischen Fortbildung in Bern während des Zweiten Weltkrieges gewidmet, wobei unter anderem die Erfahrungen von schweizerischen ärztlichen Hilfseinsätzen an der Ostfront einflossen.

Dem historisch ausgerichteten ersten Teil des Buches folgt zusammengefasst in einer Rubrik «Gegenwart und Zukunft» eine Reihe kürzerer Texte einzelner Ärztinnen und Ärzte, die sich thematisch mit «Grundsätzlichem, Bedenkenswertem und Erheiterndem» zur Medizin befassen. In Kurzbeiträgen referieren Ärztinnen und Ärzte persönliche berufliche Erfahrungen, Überlegungen zum Spannungsfeld zwischen ärztlicher Verantwortung und ökonomischem Denken, Gedanken zur Zusammenarbeit zwischen den in den Spitälern und in der ambulanten Medizin tätigen Ärzten sowie weitere aktuelle Themen.

Dem Buch ist eine DVD mit zusätzlichem Dokumentationsmaterial beigelegt.
Dabei handelt es sich einerseits um ältere und neuere Publikationen, wie beispielsweise die Jubiläumsschrift von Wilhelm Lindt zum 100-Jahre-Jubiläum 1909, die integral vorhanden sind. Ausserdem finden sich auf der DVD die verschiedenen Statuten der Ärztegesellschaft und einzelner Bezirksvereine sowie eine Übersicht über den Vorstand von 1809 bis 2008. Sie enthält zudem reichlich Bildmaterial: eine Serie von Porträtaufnahmen von Berner Ärzten, ausgewählt und fotografiert vom Arzt und Fotografen Peter Friedli, eine illustrierte Publikation über bernische Arzthäuser von 1944/46 und, auch für das nicht ärztliche Publikum eindrücklich, zwei Stummfilme, einer zum heute selten gesehenen Krankheitsbild des Kropfs und ein zweiter zum «Handwerk» Chirurgie.

Insgesamt liegt mit dieser Festschrift ein Werk vor, das einen medizinhistorischen Rückblick auf zweihundert Jahre Medizin im Kanton Bern, mit besonderem Gewicht auf die berufliche Organisation und die ärztliche Weiterbildung liefert. Zudem stellt es aber selbst ein Stück Erinnerungskultur für die Nachwelt dar, da es auch aktuelle Probleme und gegenwärtig praktizierende Ärzte zu Wort kommen lässt. Sowohl wegen der historischen Kapitel als auch wegen ihrer aktuellen Bezüge ist diese Festschrift über die Ärzteschaft hinaus für ein weiteres interessiertes Publikum lesenswert.

Zitierweise:
Gerrendina Gerber-Visser: Rezension zu: Boschung, Urs et al. (Hrsg.): Von der Geselligkeit zur Standespolitik. 200 Jahre Ärztegesellschaft des Kantons Bern. Im Auftrag der Ärztegesellschaft des Kantons Bern herausgegeben von einer Arbeitsgruppe, Bern, Stämpfli 2008, 234 Seiten, ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 116f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 116f.

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